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Auf Cavellos Anweisung hin fuhren sie Richtung Westen nach Paterson in New Jersey, entlang einer Allee, vorbei an Mittelklassehäusern. Nordeschenko hielt vor einem bescheidenen, aber hübschen, grauweißen Haus im viktorianischen Stil. Es war April, doch auf der kleinen Wiese vor dem Haus stand immer noch eine Weihnachtskrippe.
»Warte im Auto«, wies Cavello ihn an und
steckte die Waffe, die er ihm abgenommen hatte, in seinen
Hosenbund.
»Dafür werde ich nicht bezahlt«, wandte Nordeschenko ein. »Das sind
genau die Sachen, die uns umbringen können.«
»In diesem Fall«, sagte Cavello, öffnete die Tür und schlug den
Mantelkragen hoch, »geht das auf Kosten des Hauses.«
Er ging seitlich ums Haus herum und öffnete ein Gatter, das in den
Garten führte.
Er hielt seine Versprechen. Das machte ihn zu dem, was er war. Die
Leute wussten: Wenn der Elektriker etwas versprach, wurde es immer
erledigt.
Vor einer mit Maschendraht umzäunten Veranda blieb er stehen. Im
Haus lief ein Fernseher. Ein Kinderkanal. Er lauschte dem Gesang
und dem fröhlichen Klatschen. Von hinten erkannte er den Kopf einer
Frau. Sie saß auf einem Stuhl.
Cavello stieg die Stufen hinauf und öffnete die Gittertür. Er
musste lachen. Niemand in diesem Viertel brauchte eine Alarmanlage.
Hier war alles geschützt. Von ihm! Wer hier in dieser Gegend
irgendwas anstellte, war für den Rest seines Lebens auf der
Flucht.
»Rosie, wie möchtest du deinen Tee?«, fragte eine Stimme.
»Mit ein bisschen Zitrone«, antwortete die Frau auf dem Stuhl. »Im
Kühlschrank müsste noch welche sein.« Dann: »Hey, schau mal dieses
Lämmchen, Stephie. Wie macht ein Lämmchen? Mäh
… mäh.«
Cavello trat ein. Als die Frau ihn erkannte, wurde sie
kreidebleich. »Dom!«
Auf ihrem Schoß saß ein kleines Mädchen, nicht älter als ein
Jahr.
»Hallo, Rosie«, grüßte Dominic lächelnd.
Panik machte sich auf ihrem Gesicht breit. Sie war Anfang fünfzig,
hatte die Haare aufgesteckt und trug ein geblümtes Unterhemd, um
den Hals ein Medaillon mit dem Heiligen Christopherus. Sie zog das
Kind nahe an sich heran. »Ich habe gehört, dass du geflohen bist.
Was machst du hier, Dom?«
»Ich habe Ralphie was versprochen, Rosie. Ich halte immer meine
Versprechen, das weißt du.«
Hinter ihnen kam eine Frau mit einem Tablett mit dem Tee ins
Zimmer. Cavello streckte die Hand aus und jagte ihr mit der
schallgedämpften Pistole eine Kugel genau ins rechte
Auge.
Als die Frau nach hinten kippte, fiel das Tablett laut scheppernd
auf den Boden.
»Heilige Mutter Gottes.« Ralph Denunziattas Schwester schnappte
nach Luft und drückte das Kind fest an ihre Brust.
»Das ist aber ein hübsches Kind, Rosie. Ich glaube, es hat was von
Ralphie mit diesen fetten, kleinen Wangen.«
»Sie ist meine Enkelin, Dom.« Rosie Scalpias Augen waren voller
Panik. Sie blickte zu ihrer Freundin, die tot auf dem Teppich lag.
Blut sickerte aus ihrem Auge. »Sie ist erst ein Jahr alt. Tu,
weswegen du hergekommen bist, aber tu ihr nichts an, Dom. Sie ist
Simones Tochter, nicht Ralphies. Bitte, tu, was du tun musst, aber
lass meine Enkelin aus dem Spiel.«
»Warum sollte ich deiner kleinen nipotina
was antun, Rosie?« Cavello trat näher. »Es ist nur so, dass ich
deinem kleinen arschgesichtigen Bruder etwas versprochen habe. Und
daran können wir nichts ändern.«
»Dom, bitte.« Das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Bitte!«
»Das Problem ist, Rosie, auch wenn ich deiner kleinen Enkelin ein
langes, gesundes Leben wünsche, nachdem ich die Sache hier in
Ordnung gebracht habe« – er richtete die Waffe auf Rosies Gesicht
–, »die Wahrheit ist, Schätzchen, du wirst es nie
erfahren.«
Er drückte den Abzug, und Knochensplitter von Rosies Stirn
spritzten samt Teilen ihres Hirns über den Vorhang.
Ralph Denunziattas kleine Großnichte begann zu schreien.
Cavello kniete nieder und drückte seinen Finger in den Bauch des
Mädchens. »Nicht weinen. Du bist aber ein hübsches Ding.« Auf dem
Herd in der Küche begann der Kessel zu pfeifen. »Das Wasser kocht,
hm? Komm her.« Als er das Kind aus den Armen seiner toten
Großmutter hob, hörte es auf zu schreien. »Braves Mädchen.« Er
streichelte ihren Rücken. »Komm, jetzt machst du mit deinem Onkel
einen kleinen Spaziergang.«
Auf eigenen Wunsch wurde ich am gleichen Tag wieder aus dem
Krankenhaus entlassen, allerdings mit einem dicken Verband über
meinen Rippen, einem Fläschchen Vicodin und der Anweisung des
Arztes, gleich nach Hause zu gehen und mich hinzulegen.
Ich hatte tierisches Glück gehabt. Die Wunde brannte zwar höllisch,
aber die Kugel hatte nur einen Kratzer hinterlassen.
Zwei Agenten der Abteilung Interne Ermittlungen ließen sich nach
meiner Behandlung Bericht erstatten. Sie löcherten mich über die
Ereignisse im Gericht ab dem Moment, in dem ich auf den
Bildschirmen erkannt hatte, was gerade passierte, bis ich hinaus in
die Eingangshalle gerannt war. Ich hatte meine Waffe leer
geschossen. Einer von Cavellos Männern war tot. Und was die Sache
besonders unangenehm machte: Ich war gar nicht im aktiven
Dienst.
Aber schlimmer als das Brennen der Wunde war, dass es auch nach
fünf Stunden noch kein Anzeichen von Cavello oder dem schwarzen
Bronco gab. Wir hatten die Fluchtwege so gut wie möglich blockieren
und Cavellos Kontakte beschatten lassen. Aber irgendwie hatte sich
dieser Hurensohn trotz der besten Sicherheitsvorkehrungen, die je
für einen Prozess getroffen worden waren, aus dem Staub
gemacht.
Gegen meinen Widerstand hatte mich eine Krankenschwester im
Rollstuhl bis vor die Tür des Krankenhauses gefahren, wo ich etwas
steif in ein wartendes Taxi stieg.
»West 49th und 9th«, sagte ich und stieß die Luft aus, während ich
meinen Kopf gegen den Sitz lehnte und die Augen schloss. Immer
wieder sah ich vor meinem geistigen Auge, wie der Bronco losbrauste
und im Verkehr verschwand. Und mich, unfähig, etwas zu tun. Wie
hatten sie diese Sache nur durchziehen können? Wer war der Schütze
im Fahrstuhl? Wie hatten sie angesichts der vielen Kontrollen die
Waffe ins Gericht schmuggeln können?
Ich hämmerte so fest mit dem Handballen gegen die Trennwand zum
Fahrer, dass ich schon glaubte, mir die Hand gebrochen zu
haben.
Der Fahrer, ein Sikh mit Turban, drehte sich um. »Bitte, Sir, das
ist nicht mein Taxi.«
»Entschuldigung.«
Aber so leid tat es mir gar nicht. Ich stand völlig unter Druck,
und die Energie, mit der mein Blut pulsierte, gab mir das Gefühl,
gleich zu explodieren. Wir waren auf die 45th Street abgebogen,
fuhren quer durch die Stadt. Mir wurde klar, was mir wirklich Angst
machte: nach Hause in die leere Wohnung zurückzukehren und die Tür
hinter mir zu schließen. Die Stapel von Beweisen, die nur noch
wertloses Papier waren. Allein zu sein.
Ich war kurz davor, aus der Haut zu fahren. Ehrlich, ich hatte das
Gefühl, dass es gleich so weit sein würde.
Wir bogen auf die 9th Avenue ab. Von der Ecke aus sah ich bereits
das braune Sandsteingebäude. Dieser nervöse Druck in meinem
Brustkorb nahm zu.
Ich klopfte an die Glasscheibe. »Ich habe meine Meinung geändert«,
sagte ich. »Fahren Sie weiter.«
»Okay.« Der Fahrer zuckte mit den Schultern. »Wohin
jetzt?«
»West 183rd, in der Bronx.«
Ich drückte mehrmals auf die Klingel – drei, vier Mal – und klopfte
an die Tür.
Schließlich eine Frauenstimme von innen: »Ja, Moment, ich komme …
eine Sekunde.«
Andie öffnete die Tür. Sie trug einen Bademantel, darunter ein
pinkfarbenes, geripptes Unterhemd. Ihr Haar war feucht,
wahrscheinlich von der Dusche. Überrascht starrte sie mich
an.
Mein linker Arm hing schlaff nach unten, meine Kleider waren
verknittert. Und vermutlich blickten meine Augen wild und
verstört.
»Liebe Güte, Nick, ist alles in Ordnung?«
Ich gab keine Antwort, weil ich in diesem Moment nicht antworten
konnte. Stattdessen schob ich Andie rückwärts hinein und drückte
sie gegen die Wand, wo ich sie so heftig küsste, wie ich konnte.
Jedenfalls mit der Kraft, die mir geblieben war …
Und auf einmal erwiderte sie den Kuss ebenso leidenschaftlich. Ich
zerrte den Bademantel von ihren Schultern, schob meine Hand unter
ihr Hemd. Sie stöhnte, strömte nach dem Duschen einen
süßlich-zitronigen Duft aus. Ich atmete tief ein.
»Jesses, Pellisante.« Sie schnappte nach Luft, ihre Augen waren
weit aufgerissen und leuchteten wie Taschenlampen. »Du lässt einem
Mädchen auch gar keine Zeit zum Atmen. Irgendwie gefällt mir
das.«
Sie begann, mein Hemd aus der Hose zu ziehen, und öffnete den
Gürtel.
Ich zuckte zusammen – vor Schmerz. Ich hatte das Gefühl, als würde
jemand mit Schmirgelpapier über die Wunde kratzen.
»Nick, was ist los?«
Ich drehte mich von ihr fort und lehnte mich neben sie an die Wand.
»Ich hab heute was abbekommen … im Gericht.«
Andie hob sachte mein Hemd an, bis sie den großen Verband
entdeckte. »Was ist passiert?«
»Eine Kugel ist passiert.« Ich zog die Nase hoch und stöhnte
frustriert.
»Eine Kugel!« Andie schien das nicht lustig zu finden. »Nick, du
wurdest angeschossen?«
»Ja, zu dumm, nicht?«
Sie führte mich zum Sofa, wo ich mich langsam hinsetzte – oder
vielmehr zusammensank. Vorsichtig öffnete sie die restlichen Knöpfe
meines Hemdes. »O Gott, Nick.«
»Eigentlich ist das nur ein Kratzer. Es sieht schlimmer aus, als es
ist.«
»Oh, klar, jetzt verstehe ich«, sagte sie nickend. Sie hob meine
Füße auf den Beistelltisch. »Du warst auf dem Weg ins Krankenhaus,
als ich dich angerufen habe. Nick, was tust du hier? Was hat der
Arzt gesagt?«
»Er hat gesagt, ich soll direkt nach Hause fahren und die Sache
locker nehmen.« Ich verzog mein Gesicht zu einem reumütigen
Lächeln.
»Und wieso bist du stattdessen hergekommen?«
»Vielleicht, weil du es sexy finden könntest. Oder mich
bemitleidest?«
Andies skeptischer Blick brannte ein Loch in meine Augen. Sie
öffnete mein Hemd, fuhr mit der Hand am Rand des Verbands entlang
und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht … vielleicht ist es
tatsächlich ein bisschen sexy.«
»Siehst du!«
»Du bist verrückt.« Sie zog mir die Schuhe aus und schob ein Kissen
hinter meinen Kopf. »Kann ich dir irgendwas bringen?«
»Nein. Ich bin mit Schmerzmitteln vollgepumpt.« Ich zog sie zu mir.
»Ich brauche dich.«
»Ach, jetzt verstehe ich. Wenn du auf Drogen bist, klopfst du an
irgendeine Tür, wo du denkst, du kriegst jemanden rum.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Und? Hatte ich Recht?«
Sie beugte sich vor und küsste mich zärtlich aufs Gesicht, mit dem
nächsten Kuss streifte sie meine Lippen. »Vielleicht. Eine Flasche
Wein hätte es aber auch getan. Du hättest nicht losziehen und dich
anschießen lassen müssen.«
»Verdammt.« Ich stöhnte enttäuscht. »Warum habe ich nicht vorher
daran gedacht?«
Ich drückte sanft meinen Daumen in ihren Nacken. »Ich konnte nicht
nach Hause, Andie. Im Moment will ich nicht dort sein.«
Sie nickte und strich sich ihr Haar aus dem Gesicht. »Bleib einfach
hier. Wir brauchen ja nichts zu tun.« Sie legte ihren Kopf an meine
Schulter.
Ich schloss die Augen, verbannte die Schrecken der heutigen
Ereignisse und meine Wut, dass ich mit ansehen musste, wie Cavello
geflohen war. Die Wunde schmerzte höllisch. Und, ehrlich gesagt,
ich wusste nicht, warum ich hergekommen war. »Gott sei Dank«,
flüsterte sie. »Gott sei Dank ist dir nichts Ernstliches
passiert.«
»Einen Trost gibt’s ja – diese Mafia-Scheißer sind fies wie Sau,
aber schlechte Schützen.«
»Mach bitte keine Witze. Immerhin hat jemand versucht, dich
umzubringen.«
Also hielt ich den Mund – und spürte eine Träne. Ihre Träne, die
auf meiner Brust landete.
»Cavello ist verschwunden«, sagte ich. »Ich kann es nicht glauben,
aber wir wissen nicht, wo er steckt.«
»Ich weiß«, flüsterte sie.
Eine Zeit lang blieben wir so sitzen. Der Nebel in meinem Kopf
wurde immer stärker. Vielleicht vom Vicodin. Vielleicht vom Stress
dieses Tages. »Ich werde dich nicht enttäuschen, Andie. Das weißt
du, oder? Wir werden einen Weg finden, ihn zu schnappen. Das
verspreche ich, koste es, was es wolle.«
»Ich weiß«, wiederholte sie.
Diesmal hatte ich das Gefühl, dass sie mir glaubte.